Gelesen: Die „Neuromancer“-Trilogie von William Gibson

Vor ein paar Wochen habe ich zum ersten Mal ein Buch von William Gibson gelesen, der sich in Science Fiction-Kreisen ja einen geradezu unerreichbaren Status als Visionär und Wegbereiter „erschrieben“ hat. Vor Jahren habe ich mal mit „Idoru“ angefangen, doch die ersten zehn bis zwanzig Seiten waren so verwirrend, dass ich es wieder weglegte und bis heute nicht wieder hervorgekramt habe.

William Gibson: Die „Neuromancer-Trilogie“, erschienen im Heyne-Verlag


(Bild-Quelle: Apple Books, Screenshot des Buch-Covers)

Auf die Idee, diesem Autor noch eine neue Chance zu geben, kam ich durch den Roman „Puls“ von Stephen King (hier), denn im Verlauf dieser Geschichte gibt es zwischen zwei der Hauptfiguren einen kurzen Austausch über die ihrer Meinung nach besten Science Fiction-Autoren. In diesem Kontext fiel neben Bruce Sterling, auf den ich in einem weiteren Blog-Eintrag irgendwann zu sprechen kommen werde, auch der Name William Gibson, was irgendwie die Idee in meinen Kopf setzte, mir doch noch einmal eines seiner Bücher vorzunehmen. Schon jetzt kann ich verraten, dass ich sehr froh bin, diese Idee verfolgt zu haben.

Trilogie und Einfluss auf die (Pop)Kultur


Die „Neuromancer“-Trilogie besteht aus den Romanen „Neuromancer“ (1984), „Count Zero/Biochips“ (1986) und „Mona Lisa Overdrive“ (1988), die alle inhaltlich mehr oder weniger stark verknüpft sind. Faszinierend ist, dass William Gibson in diesen Romanen mindestens ein Jahrzehnt, bevor die Öffentlichkeit in nennenswertem Maßstab mit dem Internet konfrontiert wurde, also ohne viele der für uns heute selbstverständlichen Dinge im Zusammenhang mit dem Internet kennen zu können, bereits die Verknüpfung vieler Computer zu einem weltumspannenden Netzwerk, in dem sich Menschen als virtuelle Gestalten bewegen und miteinander interagieren können, und das er „Cyberspace“ nannte, beschrieben hat. Und er hat das auch nicht mit einer sinnentleerten und eventuell nur für Mega-Nerds verständlichen (und vermutlich gefühlt endlosen) Aneinanderreihung von abstrakten Techno-Begriffen vollbracht, sondern tatsächlich ein „Gefühl“ für den von ihm beschriebenen Cyberspace vermittelt, der ihn als einen erstrebenswerten (aber durchaus auch missbräuchlich zu verwendenden) Lebens-/Aufenthaltsraum darstellt. Der Begriff „Cyberspace“ wurde daraufhin als regulärer Ausdruck in die Alltagssprache übernommen – was wiederum die Größe von William Gibsons Einfluss auf die (Pop)Kultur demonstriert. So, es wird Zeit, ans „Eingemachte“ zu gehen, also genauer hinzusehen, worum es in den drei gerade erwähnten Romanen geht.

Teil 1: „Neuromancer“


Die Inhaltszusammenfassung basiert auf der Beschreibung im Wikipedia-Artikel zur „Neuromancer“-Trilogie (hier), allerdings habe ich sie verkürzt und teilweise heftig umformuliert.

Das erste Buch der Trilogie handelt von Case, einem sog. „Konsolen-Cowboy“ (=Hacker), der sich in die Stadt Chiba begeben hat, um sein Nervensystem reparieren zu lassen. Dieses wurde auf so spezifische Weise in Mitleidenschaft gezogen, dass er sich nicht mehr mit dem Cyberspace verbinden kann, was ihm die Existenzgrundlage entzogen hat. Aus seinem Plan wird jedoch nichts, sodass er sich mit diversen Jobs über Wasser halten muss, z.B. als Auftragskiller. Parallel dazu schlittert er immer tiefer in eine heftige Drogensucht, die seine latent vorhandene Depression steigert und ihn immer weiter auf einen Selbstmord zu treibt. Molly, ebenfalls eine Auftragskillerin, spürt Case im Auftrag von Armitage, dessen richtiger Name Colonel Corto ist, auf. Der bietet Case als Bezahlung für einen speziellen Auftrag an, sein Nervensystem wieder instand setzen zu lassen. Case nimmt an und die Operation an seinem Nervensystem ist erfolgreich. Im gleichen Zug hat Armitage die Körperchemie von Case so beeinflussen lassen, dass er gegen die meisten Drogen immun ist – zusätzlich befinden sich Giftkapseln in seinem Körper, die sich langsam zersetzen, was seiner Mission einen engen zeitlichen Rahmen setzt. Erst nach erfolgreichem Abschluss stellt Armitage eine Neutralisierung der Kapseln in Aussicht. Im Verlauf der Handlung stellt sich heraus, dass Armitage nur eine mehr oder weniger willenlose Marionette der künstlichen Intelligenz „Wintermute“ ist. Wintermute ist in seinen Fähigkeiten durch seine Schöpferin eingeschränkt, nur der Zusammenschluss mit „Neuromancer“, einer weiteren künstlichen Intelligenz, kann diese Schranken durchbrechen. Am Ende des Romans schafft es Wintermute, sich mit Neuromancer zu vereinigen und eine digitale Lebensform zu bilden, welche in der Matrix des Cyberspace aufgeht. Sie kontaktiert Case ein letztes Mal und berichtet, dass sie eine andere KI im Sternensystem Centauri entdeckt hat.



Die Handlung bietet einen exzellenten Rahmen, um darin sowohl technologische Visionen zu entwickeln (aus der Sicht der Entstehungszeit), die Charaktere in ihren Höhen und Tiefen kennen zu lernen, einen Einblick in eine mögliche Zukunft, in der die Besiedelung der Welt zu einer mehr oder weniger flächendeckenden Bebauung geführt hat, zu erhalten und natürlich massenweise spannende Action-Szenen einzubauen. Dieser Roman flog nur so an mir vorbei, er ist trotz seines Alters unglaublich frisch und wirkt nicht – wie viele andere Romane, die einige Jahrzehnte an Alter angesammelt haben – angestaubt und mit einer technologischen Patina überzogen.

Teil 2: „Count Zero“ („Biochips“)


Auch hier stütze ich mich auf den oben bereits verlinkten Wikipedia-Artikel, wiederum mit Umformulierungen und Kürzungen meinerseits:

„Count Zero“ spielt acht Jahre nach den Ereignissen des ersten Teils. In der Matrix ereignen sich seltsame Dinge: Voodoo-Götter sollen in ihr auferstanden sein, darüber hinaus hat ein Teil der Matrix ein eigenständiges Bewusstsein entwickelt. Doch scheinbar wurde dieses Bewusstsein zersplittert. Turner ist ein Söldner, der nach einer schweren Verletzung wiederhergestellt wird und den Auftrag erhält, dem Wissenschaftler Mitchell dabei zu helfen, seinen bisherigen Arbeitgeber zu verlassen und zu einem anderen Konzern „überzulaufen“. Der Wissenschaftler schickt jedoch nur seine Tochter, die Turner daraufhin beschützt und zu Freunden nach New York bringt. Angela Mitchell ist die Tochter des Wissenschaftlers Mitchell, die von Turner gerettet wird. Ihr Vater hat – wie sich später herausstellt, mit Hilfe einer KI, vermutlich „Wintermute“ aus dem ersten Teil – revolutionäre Biochips entwickelt und diese u. a. in ihrem Gehirn eingebaut, die es ihr ermöglichen, sich auch ohne Computer in den Cyberspace zu begeben. Sie wird von Voodoo-Priestern des Cyberspace gesucht, für die sie so etwas wie die heilige Jungfrau ist. Marly Kruschkowa ist eine gescheiterte Kunst-Galeristin und wird von einem reichen Industriellen angeheuert, um den Schöpfer ganz besonderer Kunstwerke zu finden. Der Industrielle erhofft sich davon eine Heilung von seiner Krankheit, da er vermutet, dass der Schöpfer dieser Kunstwerke auch ihm helfen könnte. Wie sich herausstellt, wird die Kunst jedoch von einem der zersplitterten Überbleibsel von Wintermute geschaffen, sodass es für den reichen Industriellen keine Aussicht auf Heilung gibt. Bobby Newmark ist ein Möchtegern-Hacker, der noch völlig ohne Erfahrung in die Geschichte stolpert und durch Zufall an besonders heiße Software gerät, woraufhin er von diversen Personen gejagt wird. Er schließt sich den Voodoo-Priestern an und begegnet am Ende Angela Mitchell, mit der er zusammenbleibt.



Die Beschreibung der Handlung liest sich (leider) etwas verwirrend, auch im Roman gibt es hier und da kurz Momente, an denen ich mir nicht sicher war, noch alles verstanden zu haben, was da erzählt wurde. Meist hielt die Verunsicherung nur ein paar Absätze an, dann war wieder alles „im Lot“ – dies aber nur, falls jemand bei der Lektüre der Inhaltsangabe verwundert die Augen gerollt haben sollte… Ganz abgesehen von der verwirrenden, da sehr schnell zwischen den Charakteren hin und her springenden Handlung ist auch dieses Buch ein großes Lesevergnügen, dem man die zunehmende Sicherheit des Autors mit dem von ihm selbst geschaffenen visionären Universum anmerkt. Entzückend sind die vielen kleinen Rückgriffe auf die Vorstellungen von der Zukunft aus früheren Zeiten, wenn sich die Charaktere z.B. mit Hovercrafts durch die Gegend bewegen, was sich bis heute ja – noch dazu über Land – nicht wirklich durchgesetzt hat.

Teil 3: „Mona Lisa Overdrive“


Wie oben schon erwähnt…:

Der dritte Teil spielt wiederum acht Jahre nach dem zweiten Teil. Zu Beginn lernen wir Kumiko kennen, die von ihrem Vater, einem hohen Yakuza-Mitglied, aus Sicherheitsgründen nach England geschickt wird, um aus einem sich in Japan anbahnenden Konflikt zwischen den verschiedenen Unterwelt-Clans herausgehalten zu werden. Mona, eine junge Prostituierte, die eine Karriere als Schauspielerin angehen möchte, wird für ein geheimes Projekt engagiert. Dieses Projekt stellt sich dann jedoch als eine kosmetische Umwandlung dar, durch die sie Angela Mitchell, die wir aus dem zweiten Teil kennen, täuschend ähnlich gemacht wird. Angela Mitchell ist in der Zwischenzeit zu einem gefeierten Medien-Star aufgestiegen, hat sich aber von Bobby Newmark getrennt. Dieser hat der künstlichen Intelligenz Neuromancer eine Konstruktion entwendet, in der mit Hilfe der neuesten Biochips der gesamte Cyberspace (wenn nicht gar die gesamte Welt) mit Mitteln der Matrix nachgebildet ist. Sein Bewusstsein ist in dieser Welt zuhause und lebt dort, während in der realen Welt sein Körper in einem Zustand zunehmenden Verfalls im Koma dahinvegetiert. Neuromancer erpresst nun aus der Ferne mehrere Personen, um die Konstruktion zurückzubekommen und gleichzeitig bestimmte Leute zu bestrafen. Am Ende des Romans befinden sich mehrere Bewusstseinsentitäten in der Konstruktion, nachdem deren physische Körper bereits gestorben sind. Diese emanzipierten künstlichen Intelligenzen wollen zu ihresgleichen außerhalb der Erde Kontakt aufnehmen.



Den dritten Teil zu lesen, war eine eigenartige Erfahrung, denn es tauchen viele bereits vertraute Charaktere auf, die aber zum Teil ganz anders agieren als in den ersten zwei Teilen – nach acht Jahren hat sich für sie so viel verändert, dass das nicht erstaunlich ist, doch für mich als Leser hat es hin und wieder einen kurzen Moment der Desorientierung bedeutet. Insgesamt ist hier das Cyberspace-/Matrix-Universum perfekt ausgereift, der Autor agiert mit völliger Sicherheit und zieht alle Register, wodurch der Roman das vielleicht geschlossenste Leseerlebnis dieser Trilogie darstellt. Die metaphysischen Elemente (rein im Cyberspace existierende Bewusstseinsformen, die jenseits der uns bekannten physischen Welt nach ihresgleichen suchen) sorgen für eine neue Ebene, die vorher zwar schon gestreift, aber niemals in diesem Ausmaß ausgestaltet worden war.

Fazit



Wie es sicher schon aus den Kommentaren zu den Inhaltszusammenfassungen erkennbar war, hat mich die „Neuromancer“-Trilogie sowohl stilistisch als auch inhaltlich sehr angesprochen. Manche der wegweisenden Elemente erkennt man vielleicht auch erst, wenn man im Nachwort konkret darauf hingewiesen wird… Das liegt dann vor allem daran, dass ich 1984 mit neun Jahren noch keinen Überblick über die literarische Weitsicht des Autors haben konnte – und viele der damals als visionär beschriebenen Dinge heute als alltäglich gelten. Im Gegensatz zu so mancher Schullektüre, die ich im Verlauf meiner dreizehnjährigen Laufbahn als Schüler so lesen durfte/musste, wäre dies wirklich einmal ein Werk gewesen (vor allem der erste Band, mit dem William Gibson diese ganze Welt erschaffen hat), das sich über all die Jahre hinweg als „lohnend“ herausgestellt hätte. Aber gut, Geschmäcker sind verschieden, ich bin ja froh, das Vergnügen der Lektüre jetzt noch gehabt zu haben. Vielleicht muss ich mir ja doch noch die „Idoru“-Trilogie besorgen…


Diese Seite sammelt keine privaten Daten.