Gelesen: „Das Spiel“ von Stephen King
(Bild-Quelle: Apple Books, Screenshot des Buch-Covers)
Ursprung der Idee
„Das Spiel“ ist wiederum einer der King-Romane, die einer einzigen „Was wäre, wenn…“-Idee entsprangen. In „Das Leben und das Schreiben“ (Originaltitel: „On Writing. A Memoir of the Craft“) erklärt mein Lieblingsautor, dass viele seiner Romane aufgrund einer solchen Idee in Gang gekommen sind:
„Das Spiel“ und „Das Mädchen“ sind zwei weitere rein aus der Situation entwickelte Romane. Wenn es in „Sie“ um „zwei Menschen in einem Haus“ geht, dann handelt „Das Spiel“ von „einer Frau im Schlafzimmer“ und „Das Mädchen“ von „einem Kind, das sich im Wald verläuft“. (…) Eine ausreichend fesselnde Ausgangssituation macht die ganze Frage nach dem Handlungsfaden überflüssig, und das ist mir recht. Die interessantesten Situationen lassen sich oft mit einer „Was wäre, wenn?“-Frage umschreiben: „Was wäre, wenn Vampire in ein kleines Dorf in Neuengland einfielen?“ – Brennen muss Salem „Was wäre, wenn ein Polizist in einer entlegenen Stadt in Nevada durchdrehte und jeden umbrächte, der ihm vor die Linse kommt?“ – Desperation „Was wäre, wenn eine Haushälterin, die ungestraft ihren Ehemann umgebracht hat, eines zweiten Mordes verdächtigt würde, den sie nicht begangen hat (an ihrer Arbeitgeberin)?“ – Dolores „Was wäre, wenn eine junge Mutter mit ihrem Sohn in einem liegen gebliebenen Wagen von einem tollwütigen Hund bedroht wird?“ – Cujo (Aus: „Das Leben und das Schreiben“, Apple Books, S. 124f.)
Welche Idee steckt nun hinter „Das Spiel“? Das wird die Zusammenfassung der Handlung gleich offenbaren...
Handlung
Gerald und Jessie Burlingame sind seit einigen Jahren verheiratet, der Alltagstrott hat sich in jeglicher Hinsicht bemerkbar gemacht. Um ihr Sexualleben wieder etwas aufzupeppen, hat Gerald angefangen, Fesselspiele in ihre erotischen Zusammenkünfte einzubringen. Nach einer kurzen anfänglichen Faszinationsphase ist Jessie dieser Spiele mittlerweile überdrüssig, erduldet sie nur noch aus Liebe zu Gerald. Die Handlung des Romans setzt an der Stelle ein, als die beiden zu einem erotischen Wochenende in ihre Hütte am Kashwakamak-See fahren. Gerald fesselt die beinahe völlig entkleidete Jessie mit Edelstahl-Handschellen an das große und schwere Bett. Noch bevor sie weiter kommen, keimt in Jessie eine so tiefe Abscheu vor den ihr schon lange unangenehmen Fesselspielen, dass sie ihren Mann bittet, sie sofort loszumachen. Er interpretiert das falsch (oder will es absichtlich falsch verstehen) und bedrängt sie weiter, woraufhin sie ihn mit den nicht gefesselten Füßen heftig tritt, was einen Herzinfarkt auslöst, dem Gerald wenige Momente später erliegt. Jessie realisiert, dass sie keine Möglichkeit hat, an die Schlüssel auf der Kommode am anderen Ende des Zimmers zu gelangen, außerdem gibt es weder ausreichend nahe wohnende Nachbarn noch zu der Jahreszeit am See spazierende Fußgänger, die sie zu Hilfe rufen könnte. Wie soll sie sich aus dieser Situation wieder befreien?
Das ist die Ausgangssituation, die den kompletten weiteren Verlauf der Handlung bestimmt. Wie auch schon bei „Dolores“ handelt es sich um eine Art Kammerspiel, bei dem sich weder der Ort noch die Personen (mit einer einzigen Ausnahme, die ich hier aber nicht verraten darf) ändern.
Podcast-Tipp
Als ich vor ein paar Wochen aus reinem Interesse in der Podcast-App auf meinem iPhone nach Stephen King gesucht habe, fand ich eine Folge des „Buch Klub“, genau genommen die vom 6. Dezember 2015, in der Nils & Simon über genau dieses Buch sprechen. Zwar verwechseln sie ein paar Handlungselemente, es ist dennoch eine hörenswerte Episode, die auch das Vorlesen einer sehr gelungenen Passage beinhaltet (aber Vorsicht: Spoiler-Alarm!). Wer sich dafür interessiert, kann von einem Apple-Gerät aus hier direkt zur Episode gelangen.
Fazit
Und trotz dieser äußerst minimalistischen Anlage (mindestens 90 Prozent des Romans gibt es nur eine einzige handelnde/denkende Person, die auch noch an ein Bett gefesselt ist) erzeugt Stephen King mit der ihm innewohnenden erzählerischen Intensität eine unglaublich beklemmende Atmosphäre.
Ich konnte mich gut in den Part von Jessie Burlingame einfühlen, die, hilflos an das Bett gefesselt, mehrere Tage verbringen muss und dabei eine fortwährende emotionale Berg- und Talfahrt erlebt. Einzelne Stellen waren erschreckend nahe an dem, was auch ich mir vorstellen würde (z.B. der Effekt der Dehydration auf den mentalen Zustand, die Angstzustände und das Kälteempfinden während der Nacht…).
Alles in allem war es ein höchst faszinierendes Lese-Erlebnis, das nicht selten den Reflex „Hoffentlich passiert mir niemals etwas in der Richtung!“ auslöste. In mancher Kritik zu dem Buch liest man von „Langeweile“, was ich so nicht nachvollziehen kann, da die Gedankengänge der ans Bett gefesselten Jessie den Leser stets in neue Richtungen leiten, um dann doch immer wieder zu ein paar zentralen Themen zurückzukehren. Auch die Verknüpfung mit „Dolores“, die zwar nicht von existenzieller Bedeutung ist, den Kundigen aber durchaus einen Mehrwert bietet, fand ich faszinierend. Ähnlich spannende Verschränkungen zwischen den übrigen Werken gibt es in zahlreichen Stephen King-Romanen. Da ich mittlerweile den Großteil seiner Romane kenne, entdecke ich bei jedem Hören/Lesen weitere Anknüpfungspunkte – eine spannende Suche nach mehr oder weniger versteckten Zusammenhängen. Ich mag das.
Letztendlich kann ich sagen, dass es für mich ein ganz und gar fesselndes Buch war, das ich nicht nur den hartgesottenen Stephen King-Fans empfehlen kann.